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Der Bikerhimmel oberhalb des Lago San Giacomo di Fraele


Ich checke, was ich noch an Notfall-Rationen eingepackt hatte, denn es war von vorneherein klar, daß es heute richtig dreckig werden würde. Ich verleibe mir zuckrige Gels und Snickers ein. Zwinge meinen Popo auf den Sattel und trete. Trete immer weiter und weiter. Sehe Fernsehbilder mit leidenen Radprofis, wie sie diesen Haßbuckel hochdrücken. Kann nicht mehr unterscheiden, ob es leibhaftige Radler oder Hirngespinste sind. Noch eine Kurbelumdrehung. Und noch eine. Nach oben hin wird es kühler und flacher und mir geht es wieder deutlich besser. Schließlich kündigen Schilder die letzten Kehren und die nahende Paßhöhe mit Verpflegungsstation an. Geschafft! Wie die Heuschrecken fallen wir über Wassermelonen und Erdnüsse her. Füllen unsere Bäuche mit Wasser und Zuckerplörre bis nichts mehr reingeht.

Der Rennradler darf jetzt abfahren. Wir aber müssen uns noch mal eine steile Straße hochquälen bis uns nach über 3 Sunden und anderthalb Kilometern Höhengewinns zum Dessert noch die absolut härteste Abfahrt der diesjährigen Transalp serviert wird. Felsquader, verblockte Schlämmlöcher, Wurzeln. Der Großteil davon glitschig. Sieht richtig riskant aus. Ich fahre trotzdem, bis sich vor mir ein Stau bildet und ich aus dem Sattel gezwungen werde. Eigentlich bin ich erleichtert, denn ehrlicherweise bin ich bis hierher nur durch Glück sturzfrei geblieben. Das war über meinem Niveau! Nicht so bei Steffen. Auch er hat am Mortirolo viele Körner gelassen und mußte sich oben eine längere Auszeit nehmen. Als schwächerer Abfahrer bin ich gleich durchgefahren. Unser Ziel ist es schließlich das Zeitlimit von zehn Stunden auf keinen Fall zu überschreiten Eine längere Zeit schon klettere ich hinter meine Leidensgenossen den steilen Pfad hinunter. Hinter mir erklingen wilde Kriegsschreie. Steffen, der verrückte Kerl schreit die Leute aus dem Weg und fährt das ganze verdammte Ding einfach runter. Er ist wie in Trance und veranstaltet einen Riesenlärm. Jetzt kann auch ich nicht anders, dränge mich an den Bremsern vorbei und schwinge mich todesmutig in den Sattel. Gott sei Dank wird die Piste nun einfacher und wir brettern über steile Karrenwege und durch Bachläufe ins Tal. Unten bin ich tatsächlich wieder vor ihm.

Alp Astras am Pass da Costainas

Abfahrt vom Passo di Verva

Nun sind es nur noch 8 einfache Kilometer ins Ziel. Das sollten wir hinkriegen. Aber der arme Bursche leidet wirklich fürchterlich. Er ist bleich und muß ständig im kleinsten Gang fahren. Für die Abfahrt hat er die letzten Reserven mobilisieren müssen. Wir schleppen uns dem Ziel entgegen. Und überleben irgendwie die üblichen, gemeinen, kleinen Rampen vor dem Ziel. Völlig entkräftet fahren wir durch den Zielbogen. Steffen bleibt auf der Straße direkt hinter der Ziellinie liegen und verweigert für eine Weile jegliche Kommunikation und starrt ins Leere. Auch zur Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme kann ich ihn erst nach einiger Zeit und mit viel gutem Zureden bewegen. Er ist komplett leer. Als schlanker Athlet hat er natürlich weniger Reserven als ich. Nach dem Tief am Mortirolo habe ich mich wieder gut erholt und fange an, mich über das Geleistete zu freuen. Neuneinhalb Stunden haben wir gebraucht. Über 100 Teams sind noch unterwegs, als wir ins Ziel taumeln. Alle gesteckten Ziele erreicht und viele Dutzend Plätze gutgemacht. Irgendwann realisiert das auch mein Partner und lebt nach den ersten Stückchen Brot sichtlich auf.

Der Freitag hält ja auch noch eine Monsteretappe mit zwei riesigen Bergen und 3.200 Höhenmetern für uns bereit. Eine Zeitlang mache ich mir Sorgen, ob wir rechtzeitig regenerieren können, aber im Laufe des Abends fühlen wir uns immer besser und begeben uns dann schon wieder in erstaunlich guter Verfassung ins Reich der Träume.
Sehr geschmeidig geht am nächsten Morgen der erste vertikale Kilometer weg und nun können wir uns auf über zehn Kilometern Länge auf Traumtrails austoben. In 2.400 Metern Höhe ! Das Wetter schwankt zwischen Gewitterwolken und Sonnenschein, so daß wir eine ganze Reihe von spektakulären Blicken ins Adamello-Massiv serviert bekommen. Die Speicherkarte meiner Helmkamera läuft heiß. Wir heizen die perfekt in den Abhang eingepassten Wanderwege hinunter und freuen uns des Biker-Lebens.

Der letzte Anstieg aus dem Val die Sole hinauf zum Rifugio Orso Bruno ist noch mal ein Killerberg. 20%-Rampe um 20%-Rampe wehrt sich gegen uns. Beim Bergauffahren fällt Steffen noch in einen Busch und holt sich die obligaten Transalp-Schürfwunden, aber am Ende muß sich auch dieser Berg geschlagen geben. Gleich rasen wir über Schotter wieder bergab. Direkt hinein in ein Sumpfgebiet. Was daran witzig sein soll, nach einem siebenstündigen Marathon sein Rad noch einen Kilometer durch den Dreck zu schleifen, bleibt wohl das Geheimnis des Streckenplaners. Jedenfalls empfand keiner der betroffenen Athleten diese Passage als „lustigen Dschungelausflug“, sondern einfach nur als überflüssige Schikane. Glücklich wieder festen Waldboden unter den Reifen zu haben, fahren wir dann euphorisiert die letzten Meter auf wurzligen Wanderwegen direkt hinein ins Herz von Madonna di Campiglio. Wieder im Zeitlimit im Ziel, wieder viele Plätze gut gemacht. Riva kann kommen!
Aber auch der letzte Tag zeigt unserem abgekämpften Haufen die Zähne. Heftige Regengüsse begleiten uns die letzten tausend Höhenmeter hinauf zum wundervollen Passo Bregn da l‘Ors. Aus dem versprochenen traumhaften Brentablick wird nichts. Alles ist grau und trist. Jeder will nur möglichst schnell der Schlammwüste entfliehen. Auf der ewig langen Abfahrt friert Steffen ein. Er schlottert am ganzen Körper. Gnädigerweise kommt die nächste Verpflegungsstelle bald und so wird er durch mehrere warme Suppen wieder ins Reich der Warmblüter zurückgebracht.

Mittlerweile scheint wieder die Sonne. Wir kämpfen uns durch den Matsch des letzten Anstiegs und stehen endlich am Startpunkt des letzten Trails hinunter nach Riva. Leider ist der wegen der Nässe größtenteils unfahrbar und sogar Steffen mutiert zum Vernunftschieber. So kommen wir glücklich und gesund in Riva del Garda an.

Über 600 Kilometer und knappe 21.00 Höhenmeter haben wir in 8 Tagen zurückgelegt. Alle Etappen absolvierten wir innerhalb des Zeitlimits, was bei den langen Abschnitten teilweise eine echte Herausforderung war. Das wechselhafte Wetter und die harte Strecke haben uns und den anderen Teilnehmern alles abverlangt. Ungefähr 150 Teams mußten das Rennen aufgeben.

 

 

Bei warmem Wetter und kühlem Bier feierten wir noch lange unser gesundes Ankommen am schönsten Zielort der Welt für Mountainbiker:
Riva del Garda